31. Dezember 2014 – Landeszeitung für die Lüneburger Heide

Interview mit Helga Grote und Robin Dirks

Helga Grote ist 86, Robin Dirks 22. Fast sechseinhalb Jahrzehnte trennen die Gastwirtin und den Studenten. Eine Sache verbindet sie: das Engagement für Flüchtlinge. In Barnstedt und in Lüneburg versuchen beide auf ihre Art, Asylsuchende willkommen zu heißen. Ein Gespräch zwischen Alt und Jung. Über Heimat, Politik und Zuwanderung als eine Chance.

Helga und Robin

Ein rotes Backsteinhaus am Ortsrand, große Fenster und ein Leuchtschild mit der Aufschrift „Fremdenzimmer“. Seit mehr als 60 Jahren gibt es das Gasthaus Grote in Barnstedt, bis heute Chefin im Haus: die 86 Jahre alte Helga Grote.

Für den Lüneburger Studenten Robin Dirks ist es der erste Besuch in Barnstedt – und das erste Treffen mit Helga Grote. Sie duzt ihn, er siezt sie. Zwei Generationen an einem Tisch.

Warum setzen Sie sich ausgerechnet für Flüchtlinge ein?
Helga Grote: Diese Menschen sind unserer Samtgemeinde zugewiesen worden. Und wenn sie bei uns sind, dann müssen wir ihnen auch ein Stück Heimat geben. Kümmern wir uns nicht und lassen sie allein, wird das Leben für die Flüchtlinge noch trauriger als es ohnehin schon ist. Ich hoffe, dass sie eines Tages zurück in ihre Heimat können und Deutschland dann in guter Erinnerung behalten.
Rund ein Dutzend Flüchtlinge leben in Barnstedt, nur wenige Hundert Meter von Grotes Gasthaus entfernt in dem ehemaligen Gasthof Kruse. Wie viele im Dorf unterstützt auch Helga Grote die Flüchtlinge, stellt Räume ihres Gasthauses zur Verfügung, verleiht Töpfe, Teller, schafft Raum für Gemeinsamkeit. „Wenn ich helfen kann, helfe ich“, sagt sie.
Robin Dirks ist in Münster aufgewachsen, lebt seit zwei Jahren in Lüneburg, studiert Umweltwissenschaften – und engagiert sich seit gut einem Jahr in der Willkommensinitiative Lüneburg. Mit weiteren Studenten hat er den Kulturgarten ins Leben gerufen. Ein Stückchen Grün im Kleingarten Moorfeld, das Flüchtlingen und weiteren Lüneburgern einen Platz zum gemeinsamen Gärtnern bietet.
Robin Dirks: Ich denke, je mehr Flüchtlinge zu uns kommen, desto wichtiger ist es, dass es Möglichkeiten zur Begegnung gibt. Im Kulturgarten gärtnern Flüchtlinge und Lüneburger gemeinsam, es wird zusammen gegessen und gefeiert. Das verbindet, da braucht man nicht viele Worte. Und ich profitiere selbst von der gemeinsamen Zeit, lerne ganz viel Neues aus den vielen verschiedenen Kulturen.

Was denn so?
Dirks: Ich wusste zum Beispiel nicht, dass man extrem leckeren Börek auch mit Mangold und Spinat machen kann. Eine albanische Familie hat uns das Rezept gezeigt. Spinat und Mangold aus dem Garten, das Ganze zusammen mit Schafskäse in Blätterteig backen, das ist unglaublich lecker.
Grote: Bei einem gemeinsamen Essen, das die Barnstedter organisiert haben, wurden die meisten Gerichte schon fertig mitgebracht. Die Flüchtlinge haben dafür ihr Essen gekocht und wir unseres. So konnten alle von allem probieren. Ich kannte nichts von dem, was die Afrikaner gekocht haben. Aber ich bin neugierig und mir hat alles sehr gut geschmeckt. Mit 86 reicht es mir allerdings, genießen zu können. Ich muss nicht mehr unbedingt wissen, wie man es kocht.
Helga Grote ist als Tochter einer Landwirtschaftsfamilie in Lüneburg aufgewachsen und später mit ihrem Mann nach Barnstedt gezogen. Die Asylsuchenden, die jetzt im Ort leben, sind die ersten Afrikaner, die sie kennengelernt hat. Früher seien oft Skandinavier zu Gast in Barnstedt gewesen, vor 40 Jahren hätten ein paar Jahre spanische Gastarbeiter im Ort gelebt. „Willkommen waren sie alle“, sagt sie. Bei ihnen und in Barnstedt.

Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland wird im kommenden Jahr laut Prognosen weiter steigen. Ist es richtig, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen?
Grote: Ich denke, die Flüchtlinge müssen irgendwo bleiben. Vielen droht in ihrem Land Folter, Krieg und Tod, dort können sie nicht bleiben. Deswegen sage ich, aufnehmen ja. Aber dafür muss sich hier etwas ändern. Sicherlich muss man den Flüchtlingen sagen, was hier möglich ist und was nicht. Das muss geregelt sein und daran müssen sie sich halten. Doch wenn wir sie eingliedern wollen, sollte ihnen auch eine Perspektive geboten werden, sie sollten arbeiten und lernen dürfen. Ist das nicht der Fall, ist es schlimm, wenn noch mehr Flüchtlinge kommen.
Dirks: Ich befürchte auch, dass mit der zunehmenden Zahl der Flüchtlinge auch die Ängste der Menschen hier größer, Demonstrationen wie die von Pegida zunehmen werden. Deswegen muss es mehr Kontakt geben, müssen die Menschen mehr von den Flüchtlingen und ihren Schicksalen erfahren.
Ein junger Afghane zum Beispiel ist mit 17 geflohen, nachdem seine Eltern von den Taliban entführt und getötet wurden, sein Freund direkt neben ihm erschossen wurde. Ganz allein ist er dann zwei Jahre lang bis nach Deutschland geflohen und dachte, als er in Hamburg angekommen ist, er hat es geschafft. Er kam her und wollte etwas bewegen, sich eine Perspektive aufbauen. Doch dann trifft diese Menschen die Bürokratie voll ins Gesicht und sie merken, dass es kaum Möglichkeiten zum Arbeiten gibt, dass die Wohnverhältnisse mitunter miserabel und die Kommunen mit ihnen überfordert sind. Ich denke, wir haben in Deutschland die Kapazitäten, diese Menschen aufzunehmen.
Und wir profitieren von Einwanderung doch in jeglicher Hinsicht. Diese Vielfalt ist eine unheimliche Bereicherung für uns, nicht nur aus ökonomischer Perspektive, sondern auch für unsere Kultur. Vorausgesetzt wir akzeptieren sie auch als Bereicherung.
Grote: Das denke ich auch. Wir können von diesen Menschen lernen und sollten sie nicht nur als Nutznießer sehen. Wenn wir es ihnen nicht zu schwer machen, sind sie eine Chance für unsere Gesellschaft. Gerade die jungen Leute sollten eine Ausbildung machen und hier bleiben dürfen.
Das sehen nicht alle Menschen in Deutschland so, das zeigen unter anderem die jüngsten Pegida-Proteste.
Dirks: Ich finde das unheimlich erschreckend. Und es zeigt, dass Aufklärungsarbeit allein nicht genügt. Ganz zentral bei diesen Bewegungen sind meiner Meinung nach Ängste. Vor dem Fremden, davor, dass uns die Flüchtlinge etwas wegnehmen. Erst die persönliche Begegnung kann solche Ängste abbauen. Die meisten Menschen hatten doch noch nie Kontakt mit Flüchtlingen aus Syrien, haben noch nie ihre Geschichte gehört, sind noch nie von ihnen zum Essen eingeladen worden, haben noch ihre Gastfreundschaft und Herzlichkeit erlebt.
Mir persönlich macht die zunehmende Fremdenfeindlichkeit große Angst. Doch meine Hoffnung ist, dass gleichzeitig immer mehr Projekte wie der Kulturgarten entstehen und damit immer mehr Berührungspunkte entstehen. Ich glaube, das ist die Voraussetzung für Akzeptanz.
Grote: Mir macht Sorge, dass immer mehr Menschen, die mit unserer Regierung und unseren Zuständen hier nicht einverstanden sind, die Schuld auf die Flüchtlinge schieben. Und dass dadurch etwas entsteht, was nicht gut ist für unser Land. Es können nicht immer noch mehr Flüchtlinge kommen, die dann hier nicht willkommen sind. Das geht auf Dauer nicht gut. Es muss also dringend etwas in den Ländern passieren, aus denen die Menschen fliehen. Dort muss ihnen geholfen werden.

Woher kommt Ihre große Offenheit den Flüchtlingen gegenüber?
Grote: Als Mädchen habe ich die Flüchtlingsströme aus dem Osten miterlebt. Damals waren ganze Dörfer auf den Straßen und haben versucht Quartier zu finden. Meiner Familie wurden auch Flüchtlinge zugeteilt, unsere gute Stube und unser Kinderzimmer mussten wir abgeben. Die Flüchtlinge haben mit uns am Herd gekocht, wir haben ihnen gegeben, was sie brauchten. Das war bei uns sehr herzlich, anders habe ich es nie kennengelernt.
Dirks: Für mich war es wichtig, dass ich längere Zeit im Ausland war. Erst ein Jahr in den USA, dann in Vietnam. Da habe ich erlebt, wie schwierig das ist: Plötzlich in einer komplett anderen Kultur zu leben und zurecht zu kommen. Da gibt es vollkommen andere Denk- und Handlungsmuster, die man selber mit seiner Prägung gar nicht nachvollziehen kann. So kann ich zumindest ein Stück weit nachempfinden, wie sich viele der Flüchtlinge hier fühlen.
Grote: Mir hat das Fremde noch nie Angst gemacht. Wir haben Menschen in unserer Kultur, denen man nicht ins Herz gucken kann. Und dasselbe gilt für Menschen aus anderen Kulturen. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen und erzogen worden, da musstest du nicht Afrikaner sein, um ausgeschlossen zu werden. Davon haben wir uns befreit. In meinem Umfeld denken alle ähnlich. Man muss offen für andere Menschen, andere Kulturen sein. Wer hierzu keinerlei Zugang hat, hat sicherlich auch Schwierigkeiten, sich darauf einzulassen.

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